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Kind, was soll nur aus dir werden? Teil 2

In der 12. Klasse hatten wir einen „Berufseignungstest“. In diesem sollten wir auf mehreren Seiten Dinge ankreuzen. Wochen später bekamen wir dann das Ergebnis in einem verklebten Umschlag (waaaaahnsinnig wichtig).

Und für welchen Beruf war ich am besten geeignet?

Töpferin.

Nein, das ist kein Witz. Das kam heraus, bei einem höchst professionellen Test, der mit großen Aufwand betrieben wurde. Irgendwo hat der Staat tatsächlich einen Haufen Geld bezahlt, um 17- und 18jährigen die Berufsfindung zu „erleichtern“, indem man sie fragt, was sie so können und wissen.

Nur: dummerweise können 17- bis 18jährige noch so gut wie gar nichts.

Das soll nicht beleidigend klingen, es ist nur die Wahrheit. Klar, man kann Rechtschreibung und Geometrie und ein bisschen Geschichte und ein bisschen Physik. Alles sehr nützliche Sachen, die man in jedem Beruf braucht.

Aber das, was Berufsbilder eigentlich ausmacht, damit hatte man noch nie zu tun. Wie kann man einem Schüler die Frage vorsetzen „Könnten Sie sich vorstellen, beratende Verkaufsgespräche zu führen?“

95% aller Schüler haben noch nie etwas verkauft. Oder gekellnert. Oder repariert. Gelehrt. Erzogen. Entworfen. Designt. Kalkuliert. Reportagen geschrieben. Soziale Netzwerke geknüpft. Programmiert. Mit Kranken gearbeitet. Undsoweiter.

Bloß, weil man es sich als 17-jähriger nicht vorstellen kann, heißt das nicht, dass man es nicht kann. Es könnte sogar sehr geil sein. Und diese Tests spucken leider nur die Berufe aus, die man sich selbst zutraut – als ahnungsloser 17-jähriger.

Kinder, ihr wisst ja gar nicht, was ihr noch alles für Berge bezwingen werdet!

In meinem Fall kam das Ergebnis „Töpferin“ zustande, weil ich im kreativen Bereich besonders oft „ja“ angekreuzt habe. Im Bereich Verkauf hatte ich die niedrigste Punktzahl.

Während der Arbeitssuche habe ich dann später auf dem Wochenmarkt gearbeitet. Oh, was ich plötzlich beratende Verkaufsgespräche zum  Thema Käse führen konnte! Und es hat auch noch Spaß gemacht.

In der Schule lernt man nichts, was einen auf irgendeinen Beruf vorbereitet. Die Fächer, in denen man in der Schule unheimlich schlecht war, könnten sogar zum Beruf werden – weil z.B. Schulmathematik mit dem Beruf des Mathematikers nichts zu tun hat. Die Schule repräsentiert nicht das Leben. In keinem Bereich.

Was soll man also tun?

Das, was einen interessiert. Es gibt in jedem Zweig Berufe, mit denen man seine Miete bezahlen kann. Und die Leute, die einem bei der Berufswahl „gut zureden“ wollen, kennen sich damit überhaupt nicht aus.

Das war das Wort zum Sonntag.

PS: Was für ein beknackter Berufseignungstest rät eigentlich 12-Klässlern auf dem Gymnasium dazu, Töpfer oder Verkäufer oder Kellner als Beruf anzupeilen? Und wer würde das tatsächlich machen, nachdem er 12  Jahre die Schulbank gedrückt hat?

Kind, was soll nur aus dir werden? Teil 1

Neulich traf ich auf der Arbeit eine 16-jährige Schülerin. Die war im Labor beim Anblick von Schweineblut umgekippt und ziemlich zittrig. Also habe ich versucht, sie etwas abzulenken, indem ich sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt habe.

Sie hätte noch keine, sagte sie. Alle anderen in ihrer Klasse wüssten schon genau, was sie machen wollten, nur sie wäre noch völlig unentschlossen.

Da musste ich mal darüber nachdenken, wie mir die Berufswelt vorkam, als ich in dem Alter war. Nämlich völlig rätselhaft. Ein riesiges Nebelfeld, aus dem ein paar unattraktive Optionen hervorragten (Steuerberater, Banker, BWL, Journalismus, Kommunikationsdesign, Architektur). Im Rückblick kann ich folgendes sagen:

  1. Kein Mensch – nicht das Arbeitsamt, nicht die Eltern, nicht die Berufsberatung – erzählt Kindern und Jugendlichen wirklich, wie viele hundert Studien – und Ausbildungsberufe es gibt.
  2. Alle diese Ausbildungen und Studienabschlüsse führen dann zu weiteren tausenden einzelner Richtungen, die man einschlagen kann.
  3. Ergo: es gibt tausende von Berufen, von denen Schulabgänger noch nicht einmal gehört haben.
  4. Es gibt hunderte von Berufen, von denen man leben kann, bei denen die Eltern aber die Hände überm Kopf zusammenschlagen („Um Himmels Willen, Kind, du eine Schauspielausbildung machen? Davon kann man doch nicht leben!!“). Stimmt aber nicht. Eine Menge Leute leben davon.

Desweiteren:

5. Viele  Erwachsene in meinem Alter haben nicht EINEN Beruf. Sondern zwei halbe. Vielleicht einen festen und einen selbständigen auf ganz verschiedenen Gebieten. So ist das heutzutage – nicht weil sie müssen, sondern weil Abwechslung toll ist.

6. Jeder Mensch hat mindestens 3 Gebiete, in denen er glücklich werden kann. Wenn irgendein 16-jähriger sagt „Ich muss unbedingt das-und-das machen, sonst sterbe ich“, dann verbaut er sich alles andere. Und unrecht hat er auch noch.

Im nächsten Post geht’s weiter. Dann kommt ein Schwank aus meiner Jugend zum Thema Berufsberatung. Was haben wir gelacht.

Bis denn.

Bang bang, you’re dead

Und schon wieder Unruhen in USA-Land. Schwarze werden von rassistischen Polizisten aufs Korn genommen. Die haben eine gute Entschuldigung, auf besagte Schwarze zu schießen, weil, in USA-Land muss man ja jederzeit damit rechnen, dass jeder Depp eine Schußwaffe im Hosensäckel haben könnte.

Gleichzeitig schießen andere Leute auf ganz andere Polizisten, die keinem was getan haben. Und das ist ganz leicht, denn in USA-Land kann sich ja jeder Depp eine Schußwaffe besorgen und überall mit hin nehmen.

Ich meine, Rassismus hin oder her – das Element X auf beiden Seiter der Gleichung ist ziemlich offensichtlich, oder? Nehmt die Schusswaffen weg, und Ruhe ist im Karton. Rassismus ist zwar immer noch genauso scheiße, aber ob jemand dabei stirbt oder nicht, das macht einen himmelweiten Unterschied. Nur, wenn Obama sich für „gun control“ ausspricht, kriegt er sofort aufs Maul. Ebenso jeder andere Politiker. Deshalb wird bei solchen Katastrophen auch auf Zusammenhalt und christliche Werte gepocht, und nicht auf Vernunft.

Warum passiert sowas bei uns nicht? Sind wir weniger rassistisch? Sind wir als Gesellschaft toller? Glaube ich kaum. Wir haben nur keine Schußwaffen. Rassistische Polizisten müssen sich bei uns auf finstere Blicke und Extra-Verkehrskontrollen für vorderasiatisch anmutende Kraftfahrzeugsführer beschränken.

Zum Schießen gibt es keine passende Entschuldigung, denn niemand hat eine Waffe dabei. Und selbst wer vielleicht illegal eine besitzt, hat sie nicht im Auto, wo sie jederzeit gefunden werden kann. Ich meine, was für ein Volltrottel würde eine Bank überfallen und sich drei Jahre später mit der Knarre im Handschuhfach erwischen lassen, um am Ende vielleicht doch noch für den Banküberfall in den Knast zu wandern, bloß weil man ihn wegen unerlaubtem Waffenbesitz verhaftet hat und dann erkannt hat, dass er auch noch einen Bankraub auf dem Kerbholz hat?

Nun ja, mit Vernunft kommt man im Land der Western und Actionfilme nicht weit. Vielleicht könnte man die Amerikaner mit Placebo-Knarren aus Plastik langsam auf den richtigen Pfad bringen? So für den Übergang? Dann ein langsames Detox-Programm, wo überhaupt keine Schußwaffen mehr vorhanden sind, sondern nur noch Kugeln, und wer gerade cold turkey hat, der darf an einer lutschen?

Leicht wird es nicht. Charlton Heston hat ja schon gedroht, seine Schußwaffen müsste man ihn gewaltsam wegnehmen. „From my cold, dead hands“ und so. Aaaber – der ist ja auch mittlerweile tot. Das wäre doch eine gute Gelegenheit. Denn es mag schwer sein, der Gesellschaft die Knarren wegzunehmen – aber ihr den Rassismus wegzunehmen, das ist noch viel schwerer.

Protestpudel aus Dämlichkeit

Nachdem die Briten vor nicht mal 48 Stunden mit 52 zu 48% gewählt haben, die EU zu verlassen, stellte sich heraus: Viele Wähler hatten nur gegen die EU gestimmt, um’s „denen da oben“ mal richtig zu zeigen. Jetzt jammern sie rum – sie haben nicht gedacht, dass ihre Stimme wirklich einen Unterschied macht.

Jetzt sitzt Britannien in der Scheiße, und das wissen sie auch. Saubere Arbeit.

Liebe aus-Protest-AfD-Wähler: Wenn man in die Steckdose packt, kann man einen Stromschlag kriegen. Merkt ihr’s jetzt auch?

PS: die Website, auf der man Petitionen ans Parlament einreichen kann, ist heute früh kollabiert. Zwei Millionen Briten haben nämlich inzwischen mit einer Petition ein neues Referendum gefordert, die allermeisten davon Engländer. Daumen sind gedrückt, aber ich hab so das dumpfe Gefühl, dass da nur die Schotten sauber rauskommen.

Wir leben schon in spannenden Zeiten.

 

PPS, etwas später: Heute morgen (also etwa 60 Stunden nach Abstimmung) sind es über 3 Millionen.

 

PPPS: Hatte heute ein herzerfrischendes Gespräch mit meinem Vater über diese Situation. Sein Kommentar: „Jetzt wollen ja Schottland und Nordirland Britannien verlassen. Das erinnert mich irgendwie an diesen Monty-Python-Sketch, mit diesem Kerl, der keine Arme und Beine hat und ruft: Sagen wir unentschieden!“

Teenage Incubators (he, guter Bandname!)

Wieder mal einer dieser Gedanken, die einem im Fünfuhrkoma kommen:

Mehr oder weniger jeder „ernsthafte“ Autor fühlt sich ja gemüßigt, irgendwann mal ein Buch über einen schwangeren Teenager zu schreiben. Wird sie, wird sie nicht abtreiben?

Aber was für eine seltsame Frage. Natürlich wird sie nicht. Das ist schließlich ein Jugendbuch, und in Jugendbüchern (anders als in der Realität) dürfen Mädchen sich nicht für eine Abtreibung entscheiden.

Oder? Irre ich mich? Gibt es da draußen Bücher, in denen die Protagonistin das Baby nicht kriegt? Wenn dem so ist, lasst es mich wissen!

Die Zukunft ist da! Oder auch nicht.

Gerade auf dem Heimweg im Radio lief ein Berich über NFC-Chips. Diese Chips, die in Kreditkarten etc drin sind. Die kann man sich neuerdings in die Hand pflanzen lassen. So geschehen auf der Cebit, wo eine Radiomoderatorin von You FM das persönlich ausprobiert hat.

Anscheinend ist sie total begeistert. Sie kann damit ihr Fitness-Studio bezahlen und Getränke kaufen. Und vielleicht kann man schon bald mit dem kleinen Chip in der Hand das Auto und das Haus aufschließen und überall bezahlen! Einfach, indem man mit der Hand über ein Empfängerfeld streicht!

Da kam mir die Idee: die Hand muss ja gar nicht mehr am Eigentümer hängen. He, es gibt allein zwei verschiedene XY-Folgen, wo Räuber Leuten Finger abschneiden, um ihre Ringe zu klauen – also warum sollten Verbrecher in Zukunft nicht Leuten auch ganze Hände abhacken, um sie auszurauben?

Wie wär’s mit einem Krimi, wo der Täter Leuten die Hände abschneidet, mit der Hand dann ihre Autos klaut und ihre Häuser ausraubt? Im Supermarkt einkaufen wird er damit grade nicht, denn eine abgetrennte Hand wirkt doch komisch an der Kasse. Aber vielleicht lässt er sie aus seinem Ärmel raushängen und tut so, als wäre es seine? Dumm, wenn sie die falsche Hautfarbe hat.

Aber so Bücher schreibe ich nicht. Also, der Plot ist freigegeben! Wer sich bemüßigt fühlt, der haue in die Tasten! 😀 Die Zukunft ist da, Kinder!

Spaß mit brauner Soße

Und nun ein ernsthafter Post in politischer Angelegenheit – anlässlich der Tatsache, dass die Besorgte Bürgerschaft die AfD zur (theoretisch) drittstärksten Partei hochgewählt hat.

Nicht, dass eine menschenverachtende Gesinnung heute salonfähig wäre. Aber viele glauben neuerdings, das wäre sie. Vor ein, zwei Jahren waren Nazis noch das Letzte, das Unterste, widerlicher als Kakerlaken im Brotkasten. Jetzt laufen Rentner und bildungsferne Dumpfbacken auf diversen „X-gidas“ neben den Glatzen her, als wär es nichts. Man fragt sich: merken die nicht, dass sie gemeinsame Sache mit Nazis machen? Wieso glauben die, alles wäre in Ordnung, solange man nur klarstellt: „… aber ICH bin kein Nazi!“

Ich glaube, ich weiß, warum das so ist. Und da ist Deutschland komplett selbst schuld.

Ich rede von der geradezu pornografischen Besessenheit für die Gräueltaten der Nazis, aber der gelangweilten Ignoranz gegenüber der Frage „Wie wird eine Gesellschaft zum Täter?“ In den Medien, aber vor allem im Bildungssystem.

Wir haben jahrzehntelang Horrorshow gespielt statt Geschichtsunterricht gemacht. Nazis in Geschichte, Nazis in Sozialkunde, Nazis in Religion, und am besten im Deutschunterricht gleichzeitig noch „Damals war es Friedrich“ gelesen. Alles sehr emotional aufgearbeitet. Ist ja ein dankbares Thema. Wir haben in der Schule Jahreszahlen gelernt, und was eine Selektierrampe ist, wir haben die Fotos von den Leichenbergen gesehen oder waren selber da und haben und Schuhstapel in Auschwitz angeschaut.

Die meisten von uns wurden nie mit der Frage konfrontiert: WIE ist das abgelaufen? Wie war die Mentalität der Leute, die bei diesem Modell mitgespielt haben, als direkte Täter oder als Mitläufer? Wie veränderte sich die Gesellschaft vor und zwischen den Weltkriegen? Welches Bild hatten diese Leute von sich selbst? Niemand hat sich anno 33 hingestellt und gesagt „So, wir sind jetzt mal Schurken und begehen Genozid. Hihi, das wird lustig!“

Schuhstapel in Auschwitz gucken hat durchaus seine Berechtigung. Schockeffekte können eine Botschaft eindringlicher machen. Aber dafür muss erstmal eine Botschaft da sein, und diese Botschaft darf nicht sein: „Guckt mal, was diese bösen Menschen (die total anders waren als wir, weil wir ja nicht böse sind) gemacht haben!“

In unserem Bildungssystem wurde jahrzehntelang der Schockeffekt ANSTELLE von politischer Bildung verwendet statt zusätzlich. Leichenberge hier, Hitlerreden dort, Marmelade statt Butter anno 44. Wir haben Zeitzeugen vor schwarze Wände gesetzt und sie erzählen lassen, von ihrem Großonkel Himmler oder von ihrer Zeit im KZ. Hat alles seine Berechtigung. Aber wir haben viel zu selten gefragt, was vorher war. Wie war das, als Papi und Mami auf die Idee kamen, die NSDAP zu wählen? Das hätten uns die Zeitzeugen auch erzählen können, aber das wollte keiner hören.

Woran merkt man, dass eine Gesellschaft gefährliche Tendenzen entwickelt? Was passierte damals in den Köpfen der Leute? DAS hätten wir fragen sollen. DAS ist politische Bildung. Aber welcher Geschichtslehrer will sich mit solch drögen Details herumschlagen, wenn man auch die Unterrichtszeit mit saftigen Schockbildern und gruseligen Massenmorden breitschlagen kann? (Zum Glück setzen sich durchaus einige Geschichtslehrer mit dem Thema auseinander. Aber längst nicht genug.)

Und jetzt haben wir den Salat. Ein ganzer Haufen Leute hört auf zu denken und radikalisiert sich, heutzutage gegen Flüchtlinge. Genauso grundlos wie damals die Diskriminierung diverser Gruppen. Aber nee, wir sind doch keine Nazis, wir sind besorgte Bürger! Nazis, das sind böse Leute in der Vergangenheit oder in der NPD. Die sind doch ganz anders als wir!

Wir haben jahrzehntelang nicht nachgefragt, WIE man Täter wird. Weil Deutschland anscheinend dachte, wenn man Leute nur mit genug Schuhstapeln bewirft, dann werden sie so geschockt sein, dass sie automatisch mitfühlende Humanisten werden.

Tja, soviel dazu.

Wir haben Leute aus dem Mainstream, die sich in dieselbe Gedankenschiene einpendeln wie damals das Fußvolk. „Wir wehren uns nur, wir sind in Wirklichkeit die Unterdrückten! Die nehmen uns unsere Heimat weg! Die haben alles, wir haben nichts!“ – von Höcke kommt derselbe Dreck, den Goebbels damals seinen ungewaschenen Massen entgegengeschleudert hat. Aber das merkt kaum jemand. Weil kaum jemand gelernt hat, was diese Ideen waren. Weil wir nie nachgefragt haben, was im Kopf abgeht, wenn man eine Gesellschaft sich radikalisiert.

Der Staat ist schuld, dass solche Sachen in Lehrplänen nicht genug in den Vordergrund gerückt werden. Die Geschichtslehrer sind schuld, wenn sie Schockmedien einsetzen, statt den Schülern die langweiligen Hintergründe beizubringen. Guido Knopp und Konsorten sind schuld, wenn ihre Dokus die politische Bildung in den Hintergrund stellen, weil sich reißerischer Kram eben besser verkauft.

Das heißt aber nicht, dass die Möchtegern-Nicht-Nazis und Besorgten Bürger unschuldig wären. Wer nicht denkt, ist immer schuld. Diese neidischen, gierigen, missgünstigen, widerwärtigen, lächerlichen Denkdienstverweigerer. „Wir wehren uns nur! Wir sind bedroht!“

Joh, das funktioniert immer. Appelliere an die Gier beim Fußvolk, und sie denken: endlich sieht mal einer, wie schrecklich es mir geht! Ich muss schließlich immer noch „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ auf meinem Röhrenfernseher gucken, weil ich mir keinen Flachbildschirm leisten kann!

Mann, Mann. Wir müssen der AfD bei der nächsten Wahl so in den Hintern treten! Wählt ALLES, was ihr wollt – meinetwegen sogar CSU oder, schauder, FDP – aber nicht AfD, nicht NPD, nicht Reps oder den Rest von der Mischpoke. Das Leben ist zu kurz für Hass und Ignoranz!

 

Jetzt muss ich erstmal „Schtonk“ gucken, um mich abzuregen…

Die unerträgliche Leichtgläubigkeit des Netzes

Wir leben in einer Kultur, in der das „public shaming“ von Leuten mit widerlichen Ansichten (Rassisten, Homophobe, Sexisten, Tierquäler, etc) im Internet zum guten Ton gehört. Schön, dass wir alle so anständige Menschen sind. Und weil wir alle so anständige Menschen sind, machen wir kräftig mit und teilen und liken und kommentieren, wenn man uns ein Foto von einem Menschen zeigt, der etwas Böses gemacht hat.

Denn wenn es im Internet steht, dann muss es wahr sein!

Ich schreibe das aus aktuellem Anlass. Auf Facebook kursiert gerade ein Schreiben, das eine Zahnärztin (angeblich) an ihre Praxistür gehängt hat. Darin entschuldigt sie sich quasi bei den Nachbarn, dass sie auch den verlausten, typhus-befallenen Flüchtlingen die Zähne machen muss, und bietet an, den Hausflur danach zu desinfizieren.

Ich kenne die Frau nicht. Möglich, dass der Zettel echt ist.

Aber genauso gut möglich: irgendjemand hat den Zettel getippt, an ihre Tür gehängt und dann ein Foto im Netz gepostet, um ihr zu schaden. Mit Namen und Adresse, wohlgemerkt.

Es gibt inzwischen hunderte von Kommentaren, alle wütend oder von einer „Mein Gott, so hat seit 1945 keiner mehr geredet“-Betroffenheit. Niemand, wirklich niemand stellt in Frage, ob der ganze Kram echt ist oder nicht. Alle kommentieren und liken wie die Wilden. Niemand möchte sich seine schöne Empörung von dem Gedanken stören lassen, dass er da vielleicht an einer bösartigen Hetzkampagne teilnimmt.

Und leider ist das kein Einzelfall.

Neulich teilte einer meiner Facebook-Freunde ein Foto aus einer seiner Gruppen. Einen Selfie, im Vordergrund ein blonder Jüngling, etwas weiter hinter ihm eine Gruppe Schuljungs. Bildunterschrift: „Die Jungs im Hintergrund mobben mich, weil ich schwul bin, vor allem der Typ ganz rechts. Jetzt reicht’s! Ich poste ihre Gesichter online und wehre mich! Bitte verbreitet dieses Bild!“

Die Kommentare dazu kann man sich vorstellen. Bei emotionalen Themen zeigt man nun mal am besten, was für ein anständiger Mensch man ist, indem man zu Mord und Folter auffordert.

Also, hier nochmal ganz langsam:

Wir sehen einen Selfie mit einem Jungen im Vordergrund und ein paar anderen Jungs im Hintergrund. Sonst nichts. Jeder kann dieses Foto irgendwoher genommen und die Bildunterschrift dazu gesetzt haben. Ihr kennt den Kontext nicht. Die Kinder in dem Bild kennen sich womöglich nicht mal, sie laufen vielleicht nur zufällig auf derselben Straße. Vielleicht haben sie nicht mal mitgekriegt, dass dieses Bild überhaupt geschossen wurde. Geschweige denn, dass sie ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gegeben hätten.

Aber gib dem Bild einen emotionalen Kontext, und schon verwandelt das Netz sich in einen Mob mit Schaum vorm Mund und bedroht fremde Minderjährige. Was sind wir alle für anständige Menschen!

Ob die Zahnärztin wirklich den Zettel rausgehängt hat – spielt keine Rolle mehr. Selbst wenn sie nachweisen kann, dass sie es nicht war, wird dieser Post noch jahrelang im Netz kursieren und ihr Leben beeinträchtigen. Ob die Teenager in den Fotos wirklich schwul bzw. mobbende Drecksäcke sind – spielt keine Rolle mehr. Bei jedem Vorstellungsgespräch, bei jeder neuen Bekanntschaft kann sie dieses Bild einholen. Wahrscheinlich für die nächsten paar Jahrzehnte.

Liked solche Hetzbilder nicht. Teilt sie nicht weiter. Kommentiert sie nicht. Seid nicht so leichtgläubig, verdammt nochmal! Ihr wisst nicht, was ihr anrichtet.

Für den schäumenden Netz-Mob ist es nur ein Klick und eine Bemerkung, hops und weg. Aber für die Beschuldigten ist es bitterer Ernst. Was auch immer mit diesen Bildern und den Beschuldigten passiert – niemand kann es stoppen.

Der Fall mit den Teenagern ist besonders schlimm. Wir machen uns Sorgen, welche Informationen unsere Kinder im Netz preisgeben. Wir haben Angst, dass sie Bikinifotos oder ihre Adresse ins Netz stellen. Aber gleichzeitig sind wir sofort dabei, die Kinder anderer Leute im Netz zu verleumden und zu bedrohen, wenn wir uns dabei wie bessere Menschen fühlen können.

Schockierend, wie dumm und unkritisch erwachsene Menschen mit dem Internet umgehen, nicht?

Morgen könnte jemand ein Foto von eurem Kind nehmen und es auf Facebook posten mit den Worten: „13-jähriger Junge aus Castrup-Rauxel quält Hamster zu Tode!“. Dann wäre es euer Kind, das bedroht und beschimpft wird – und nicht nur online. Für wer-weiß-wie lange. Denn was im Internet steht, stellt der Mob nicht in Frage.

Leute, fangt endlich an zu denken! Bevor ihr liked! Bevor ihr kommentiert, und bevor ihr teilt!

Packt euer Testosteron und eure ach-so-befriedigende Selbstgerechtigkeit weg und lernt, mit all diesen schönen bunten Informationen verantwortungsvoll umzugehen! Ihr seid so überfordert wie ein Tintenfisch, der mit Kettensägen jongliert. Ob ihr euch selbst trefft oder jemand anders – den Schaden könnt ihr nie wiedergutmachen.

Hinter jedem Bild und jeder Adresse, die benutzt wird, um euch zum Mob aufzupeitschen, steht ein realer Mensch. Ihr solltet besser verdammt sicher sein, dass ihr im Recht seid, bevor ihr das Maul aufmacht!

Sonst seid ihr kein Stück besser als die Bildzeitung. Nur ohne nackige Frau auf Seite 3.