Eigentlich würde ich gerne den Rückblick auf dieses Jahr ausfallen lassen. Muss das wirklich nochmal Revue passieren? Aber hey, jeder schreibt doch, was er gelernt hat, im Jahr 2020, wo alles „anders“ war. Meine Erkenntnisse waren… lehrreich. Aber es waren keine guten dabei.

Ich habe gelernt, wie egoistisch die Deutschen sind (siehe das Horten von Klopapier und Nudeln), während sie gleichzeitig pathetisch die „Solidarität“ beschwören. Wie wenige Deutsche es interessiert, dass Millionen Menschen seit März Berufsverbot haben und unzureichend und viel zu spät entschädigt werden (und zwar Leute, die wirklich finanziell davon abhängig sind. Nicht solche Feierabend-Autoren wie ich.) Ich habe gelernt, wie unproduktiv, aggressiv und menschenfeindlich der gesellschaftliche Diskurs wird, wenn er (zwangsweise) in die sozialen Medien verlagert wird.

Vor allem aber habe ich gesehen, wie viele Leute im Jahresrückblick Dinge posten wie „Dieses Jahr habe ich gelernt, wie dankbar ich für alles sein kann, was ich besitze“ oder „Dieses Jahr habe ich festgestellt, dass ich Glück habe, ein Dach über dem Kopf zu haben.“

In keinem dieser Sätze kommen andere Menschen vor. Freundschaften? Fehlanzeige. Kollegen, die man vermisst? Nö. Verwandte, die man lange nicht sehen konnte? Ach was. Wirklich wichtig ist der volle Kühlschrank und der Netflix-Zugang.

Bin ich der einzige, dem bei solchen Sätzen übel wird? Ist das Deutschland? Wirklich? Solange wir materiell versorgt sind, ist alles supi?

Ich persönlich habe dieses Jahr vor allem gemerkt, wie sehr ich andere Menschen vermisse. Gute Gespräche mit wenigen, wirklich wichtigen Leuten. Menschen als Seelen-Akku-Ladegerät. Oder nur mal ein höfliches Lächeln von Fremden (das jetzt hinter Masken verschwindet). Menschen sind hochsoziale Tiere, würde ein Verhaltensforscher jetzt sagen.

Aber für viele Deutsche ist Einsamkeit im Jahr 2020 zum Luxusproblem mutiert. Nix, was man ernstnehmen muss. Man sollte lieber dankbar sein, dass man ein Dach über dem Kopf hat! Wir haben es doch so viel besser als die armen Säcke in Moria!

Ach ja, was ist eigentlich aus denen geworden? Moria ist im September abgebrannt, erinnert ihr euch? Deutschland hat damals (nach großem Druck auf Horst Seehofer) versprochen, 1550 Menschen aus Moria aufzunehmen, hauptsächlich kranke Kinder und ihre Familien. Bis jetzt (Ende Dezember) sind weniger als 400 davon in Deutschland angekommen. Wie wäre es also, gerade über Weihnachten mal nachzuhaken, wie es eigentlich den wirklich Benachteiligten geht? Statt in satter Selbstzufriedenheit demütige kleine Sprüche zu posten? Aber genug mit dem Exkurs. Zurück zum Thema.

Isolation. Sehnsucht nach menschlichen Kontakten. Wer Google Scholar bemüht, der wird dort unter „mortality social isolation“ eine endlose Liste von Publikationen finden, die alle zeigen: Einsamkeit ist schlecht für die Gesundheit. Einsamkeit erhöht die Sterblichkeit, unter alten Menschen sogar um bis zu 30%. Einsamkeit tötet.

Bis 2020 war das auch ein Problem, das durchaus ernstgenommen wurde, vor allem die Einsamkeit alter Leute in Pflegeheimen. Seit März interessiert das keinen mehr. Social Distancing heißt das Modewort, alles kein Problem, wir haben ja alles digital, alles supi. Da frage ich mich: wenn ich mich schon so isoliert und abgeschnitten fühle, obwohl ich mit Mann und 2 Kleinkindern zusammenlebe – wie geht es dann Leuten, die allein leben oder keinen Verwandtenbesuch bekommen oder sich derzeit nicht unter Menschen trauen? Gehen die nicht die Wände hoch?

Bis jetzt hat niemand dazu etwas zu sagen gehabt, nur der deutsche Ethikrat kam letzte Woche mal mit Forderungen in die Puschen. Ich will nicht über Sinn und Unsinn bestimmter Isolationsmaßnahmen reden, das gehört nicht hierher. Aber es schockiert mich, wie materiell und unsozial viele Deutsche sind – und wie wenig dazugehört, dass sie es auch ungeniert zeigen. Solange sie im Überfluss leben, brauchen sie keine anderen Menschen, und sie sind auch noch stolz darauf. Das ist meine wichtigste Erkenntnis aus 2020. Leider gibt es keine schönere.